Reisen, Unternehmer, Abenteuer, Inspiration, Unternehmertum

„Mensch Götz, lass doch mal gut sein!“ Oder: Eine Busfahrt durch Indien

Reist ihr nach Indien, dann gibt’s drei goldene Regeln: 

Erstens: Koch’ es, brat’ es, schäl’ es oder vergesse es! (Cook it, boil it, peel it or forget it).

Zweitens: Nimm niemals Essen oder Getränke von Fremden an.

Drittens: Fahre niemals nachts. Setze dich niemals in ein Verkehrsmittel, Auto oder Taxi oder Bus, das über Nacht fährt.

An die dritte Regel dachte ich jetzt, als aus der nächtlichen Dunkelheit der indische Priester trat, um mit einer brennenden Fackel den Bus zu segnen, in den ich gleich einsteigen würde … 

Abgefahren

Ich wollte von einem Ort im Inneren des indischen Bundesstaates Kerala bis an die Küste fahren. 2008 war das. Zumeist war ich, um Land und Leute kennenzulernen, mit dem Zug unterwegs. Fahrkarten spontan online zu kaufen, war damals in Indien noch kaum möglich. Es gab weder Fahrkartenautomaten noch einen Schaffner, wie hier bei der DB, bei dem ich ein Ticket während der Fahr hätte kaufen können. Das Abenteuer Zugfahrt in einem heillos überfüllten Zug begann jedes Mal an einem Ticketschalter in einer Schlange von gefühlt 500 Indern. Totales Chaos. Niemand sprach dort damals Englisch. Und an jenem Tag fuhr der Zug an die Küste ohne mich ab: Kein Ticket mehr zu ergattern.

Weil ich aber unbedingt an die Küste wollte, entschied ich mich, den Nachtbus zu nehmen. Der Priester, der für uns um den Beistand der Götter betete, war vom Busunternehmen gerufen worden. 

,Na, das kann ja heiter werden!’, dachte ich, ,Weißt du wirklich, auf was du dich da einlässt? Willst du wirklich in den Bus einsteigen?’ 

Ich stieg ein, begegnete Götz und lernte etwas fürs Leben.

Entscheidung

Ich hatte schon einige Geschichten über Busfahrten in der Nacht gehört, die sehr dafür sprachen, die Goldene Regel #3 zu beherzigen. Die Fahrer heizen, als wäre Shiva hinter ihnen her. Die Straßen sind unter aller Kanone und nicht beleuchtet.

Ich dachte, während der Priester sein Gebet beendete und der Fahrer sich hinter das Steuer klemmte: Okay, du hast nun zwei Möglichkeiten: Entweder du steigst aus. Oder du machst es wie die Inder, die klar sehen, auf was sie sich einlassen und darauf vertrauen, dass es schon gutgehen wird.

Ich entschied mich, sitzen zu bleiben. Und als ich die Entscheidung einmal getroffen hatte, da atmete ich tief durch und entspannte mich. 

Dann kam Götz.

Er sah aus, als wäre er aus einer Zeitkapsel gestiegen und aus der Berliner Kommune 1 Anfang der Siebziger in meiner Gegenwart gelandet. Götz. Wenn ich mich an diese Nacht erinnere, habe ich immer noch die Stimme seiner Frau im Kopf: „Götz, jetzt beruhige dich doch mal. Götz bitte. Jetzt lass es doch gut sein, Götz!“

Sie waren zu viert unterwegs, zwei Paare, Mittsechziger, die in weißen, wehenden langen Gewändern in den Bus stiegen. Deutsche. Esoterisch angehaucht, dabei aber super angespannt. Total gestresst, bis sie sich einmal auf ihren Sitzen eingerichtet hatten. Und immer wieder „Götz, jetzt beruhige dich!“ 

Aber Götz beruhigte sich nicht. Er regte sich nur auf. Damit hakte es, jenes hatte nicht geklappt. Eben, wie ich fand, die typische deutsche Erwartungshaltung: Alles hat zu funktionieren. Und damit beraubte Götz sich – und auch seine Mitreisenden, die seine Worte verstanden – der einmaligen Erfahrung.

Geschenkt

In Indien könnt ihr alles haben, nur, dass eure Erwartungen erfüllt werden,  könnt ihr euch abschminken, weil es doch eh immer alles anders kommt, als ihr denkt. Das war meine Lektion, die ich lernte, und die ich noch heute als Unternehmer versuche, zu beherzigen. 

Jemand wie Götz nimmt das Leben als eine Selbstverständlichkeit: Es hat mir gut zu gehen! Das steht mir zu! Für einen Inder ist das Leben ein Geschenk, das sie mit Neugier, Offenheit und Ur-Vertrauen annehmen. Nichts ist selbstverständlich, aber es wird schon gut gehen. Es ist eben, wie es ist … Und ein wenig färbte diese Einstellung auf mich ab und ich konnte mich damals im Bus auf das „Hier und Jetzt“ einlassen. Ich konnte erfahren, was dies mit mir macht, wenn ich wertfrei an den Moment, an eine Erfahrung herangehe – mich einer Herausforderung stelle, die mich aus meiner Komfortzone holt: Ich fühlte mich näher an mir selbst, irgendwie echter. Einfach präsent. Ich hatte ganz stark das Gefühl, dass alles gut wird. Dass ich mich nicht hinter einer Maske verstecken und keine Angst zu haben brauche, zu leben. Wenn ich denn die Busfahrt überlebe …

Sonnenaufgang

Die Fahrt war krass. Es ging um halb zwölf in der Nacht los. Mehr als einmal trat der Fahrer voll in die Bremse, weil ein Tier über die Straße lief oder, durch die Scheinwerfer geblendet, einfach mitten auf der Straße stehen blieb. Kaum war das Tier in der Dunkelheit verschwunden, heizte der Fahrer wieder los. Einmal passierten wir einen ausgebrannten Bus, der im Straßengraben auf der Seite lag.

Morgens um fünf Uhr kamen wir an. Ich stieg aus. Laut Karte war die Küste nicht weit entfernt. Aber im Dämmerlicht dieses frühen Morgens schien die Endstation des Busses irgendwo im Nirgendwo zu liegen. Mit wehenden weißen Gewändern rauschten die zwei Pärchen an mir vorbei, sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich kaum wahrgenommen hatten. Götz schimpfte. Seine Frau versuchte ihn zu beruhigen. Die waren schon wieder einen Schritt weiter, auf der hektischen Suche nach einem Tuk Tuk, während ich mich noch ganz im Hier und Jetzt fühlte. „Mensch Götz, lass es doch mal endlich gut sein!“, hörte ich die Frau rufen, „Jetzt warte doch auf uns, Götz!“ – sie verschwanden im Gebäude der Busstation.

In dem Moment ging die Sonne auf. Da war ein Flussarm, dessen Wasser nun im Sonnenlicht glitzerte. Ein Anblick wie aus einem Indien-Bilderbuch. Ich lächelte.

David

PS: In David’s Diary erfahrt ihr mehr über mich und meine Sicht des Unternehmertums. Abonniert doch einfach meinen Newsletter, dann verpasst ihr keine Folge. Hier gehts zur Anmeldung: https://david-stammel.de

Vorheriger Beitrag
„Das echte Leben gibt es nur nach Feierabend …“
Nächster Beitrag
Beste Freunde – wahrhaftig zusammenarbeiten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.