Karen on the internet – wer unsere Gesellschaft spaltet - David Stammel

„Karen on the internet“ – wer unsere Gesellschaft spaltet

Grauer Himmel, kalte Luft, feiner Nieselregen – kein gemütlicher Sonntag. Trotzdem arbeiten zwei Dachdecker fleißig auf einem Haus in einem kleinen Ort vor sich hin, ohne viele Worte. Sie kommen gut voran in ihrer Arbeit. Sind ein eingespieltes Team. Die ganze Szenerie wirkt sehr harmonisch, fast schon idyllisch … bis eine Frau aus dem Nachbarhaus geschossen kommt, wutentbrannt, eine richtige Furie. Sie zieht ihnen mit einem Ruck die Leiter weg. Schreit empört: „Es ist Sonntag! Da wird nicht gearbeitet! Wo sind Sie denn erzogen worden?!“ 

Über dieses Video bin ich neulich im Netz gestolpert … – gebt mal auf YouTube „Karen“ ein und ihr werdet haufenweise ähnliche Videos findet. „Karen on the internet“ ist ein Phänomen, es gibt dazu sogar einen Wikipedia-Artikel. Das ist schon strange, was da teilweise gefilmt wurde. Absurd irgendwie. Aber auch unheimlich. Was mir dabei wieder so klar wurde, ist, wie unheimlich groß doch die Gefahr ist, dass wir uns durch solche Karens in unserer Gesellschaft spalten lassen, wie groß die Gefahr ist, die Karen in uns selbst zu wecken …

Die Karens dieser Welt

Nichts gegen die Karens in dieser Welt, aber wohl gegen dieses Phänomen einer „Karen“, dem Inbegriff einer bizarren Rechthaberin. Einer aggressiven Person, die nur gelten lässt, was sie als gut und richtig ansieht. Und sich immer im Recht fühlt. Die ausrastet, ohne zu wissen, welche Gründe die andere Person vielleicht für ihr Verhalten hat. Warum die zwei Arbeiter an einem Sonntag auf dem Dach sind … Weil es sonst reinregnet und das Dach deshalb fertig werden muss? 

Aber ohne nachzufragen, direkt von seinem eigenen Weltbild aus zu urteilen: „Überall Idioten“ – auf diese Weise, durch solche Karens, spaltet sich unsere Gesellschaft. 

Es ist ja auch durchaus interessant, zu hinterfragen, was das über diese Personen selbst aussagt. Ich bin der Meinung, unser eigenes Verhalten ist ein Spiegel für unser eigenes Leben: Euer Innerstes tragt ihr nach außen. Dass diese Karen ihre eigenen Glaubenssätze so starr verfolgt, „Sonntag ist Ruhetag“, zeigt doch nur, dass sie selbst in ihrer ganz eigenen kleinen Bubble steckt. Sich selbst nicht reflektiert. Von sich selbst abgespalten ist. Und dieses Unvermögen an Reflektion, diese Spaltung, trägt sie dann mit ihrem Verhalten in die Welt hinaus. Sie beharrt auf ihrem Weltbild. Ihren Regeln. Sie kann nicht außerhalb ihrer Muster denken. Durch diese Beschränkung fühlt sie sich im Recht.

Je mehr du dich selbst im Recht fühlst, desto größer die Gefahr, dass du selbst blinde Flecken hast. Weil deine Toleranz dann komplett ausgeschaltet und so eine Akzeptanz nicht möglich ist.

Cool down, Karen!

Als ich das Video gesehen habe, ist mir eine Situation aus meiner Schulzeit, vielleicht in der sechsten Klasse, wieder eingefallen: Wir haben in Sozialkunde ein Rollenspiel gemacht: Einer hat spät abends in seiner Wohnung gebohrt. Der andere war der Nachbar, der daraufhin bei diesem klingelt, weil er sich von den Geräuschen gestört fühlt. Und ich kann euch sagen: Bei den meisten Schülerpaaren ist es eskaliert, führte über Schreien bis zu Schlägereien – gespielt und mit Lachen natürlich. Aber trotzdem war es auch damals schon da: dieses Karen-Phänomen. Die Nachbarn, die direkt auf den anderen losgegangen sind, ohne Luft und Zeit zu lassen, um mal zu hinterfragen, ob es einen Grund für die abendliche Ruhestörung gibt.

Ich habe dann damals mit einem Mitschüler die Situation ebenfalls durchgespielt und war dabei der Störenfried: *Klingel, klingel, klingel* Ich öffnete die Tür und mein Kumpel fragte mich mit neutraler Miene: „Guten Abend, warum bohren Sie denn so spät?“ Ich blickte auf meine imaginäre Uhr. „Oh, sorry, schon so spät? Tut mir leid, ich war die ganze Zeit arbeiten. Ich habe es nicht vorher geschafft. Ich bin auch ganz schnell fertig, ich komme einfach gerade nie sonst dazu!“ Mein Kumpel nickte: „Achso, ok, wenn das so ist, dann machen Sie ruhig fertig, das passt schon.“ Unaufgeregt. Verständnis statt Verurteilung. Durch meine Erklärung habe ich ihm keine Angriffsfläche mehr geboten.

Karen, bleib daheim!

Wenn ich diese Situation nochmal durchspiele, mich daran erinnere, ist das eine Erkenntnis, die ich auch heute noch für mich mitnehme: mich immer wieder der Herausforderung zu stellen, das, was wir eingetrichtert bekommen haben, zu hinterfragen. Weil, wenn ihr euch ohne das einfach immer im Recht fühlt, wohin führt das denn? Zu gar nichts. Auf diese Weise sorgt ihr für Spaltung. Wenn ihr aber Verständnis zeigt, euch selbst und euer eigenes Verhalten hinterfragt und immer wieder in die Reflektion geht. Wenn ihr versucht, die Dinge wirklich zu verstehen, dann erweitert ihr euren Horizont. Und sorgt für Verständnis, für Verbundenheit, für gegenseitige Unterstützung.

Deswegen versuche ich in solchen Situationen, bei denen mein Weltbild aus den Fugen gerückt wird, die Karen in mir im Zaum zu halten. Und stattdessen lieber an meinen Mitschüler in der sechsten Klasse zu denken.

Euer David

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